Sammlung Eva Schwegler
Kämpfernatur (2003)
Der 35-jährige Erzähler erinnert sich an seinen jüngeren Bruder
Ich kam ganz deprimiert vom Schulheim zurück, mein Bruder sass am Tisch und sah mich an. Er legte sein Buch zur Seite und hörte mir zu. Ich hatte Liebeskummer. Es wurde ein offenes Gespräch wie noch nie. Ich war damals 20, mein Bruder 15. Bis dahin hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Er hat zugehört und nachgefragt. Er meinte, dass meine damalige Freundin vielleicht gar nicht richtig Schluss machen wollte, sondern nur eine Pause brauchte. Ich solle dranbleiben. Das stimmte, es war nicht das Ende der Beziehung.
Mein Bruder ist eine richtige Kämpfernatur. Er packt etwas an und zieht es durch. Es gelingt auch ihm nicht alles, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Ich habe ihn immer dafür bewundert. Unsere Beziehung ist heute sehr eng, denn er ist mein Beistand. Er kommt mit an Netzgespräche des Psychiaters und erklärt mir die Entscheide so, dass ich sie nachvollziehen kann. Das war mit früheren Beiständen anders. Da hiess es einfach ja oder nein. Mein Bruder sagt mir jedoch, warum etwas entschieden wurde. So ist es viel besser.
Leni (1967)
Der 60-jährige Erzähler erinnert sich an seine jüngere Schwester
Ich bin in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, hatte eine schöne, harmonische Kindheit, zum Teil fast überharmonisch. Ich habe eine zwei Jahre jüngere Schwester. Als sie noch klein war, so vier, fünf Jahre alt, erzählte sie uns viel von Leni. Wir wussten anfangs nicht, wer das war, und fanden dann heraus, dass es eine unsichtbare Gestalt ist. Die Eltern stiegen darauf ein, mich hat’s genervt. Beim Essen wurde für Leni mitgedeckt, da lag dann an einem leeren Platz ein nicht benutztes Gedeck. Manchmal konnte mir meine Schwester bei Sachen im Haushalt nicht helfen, weil Leni krank war. Mein Eindruck war, dass Leni vorgeschoben wurde, damit sie gewisse Dinge nicht tun musste. Das ging so weit, dass sie einmal nicht in die Schule wollte, weil es Leni nicht gut ging. Meine Eltern waren dann doch alarmiert und sind in eine Beratung gegangen. Eines Tages hiess es plötzlich, Leni habe einen Unfall gehabt. Sie sei unter ein Auto gekommen und gestorben. Wir haben ein Abschiedsritual gemacht. Selbst ich fand es irgendwie traurig, dass Leni nicht mehr da war.
Vielleicht habe ich die Rolle von Leni übernommen, um meiner Schwester über den Verlust hinwegzuhelfen. Sie hing an mir wie eine Klette. Mich nervte das zunehmend. Mein Lebensraum wurde grösser, ich wollte zum Tschutten, und sie wollte überall hin mitkommen.
Bis heute kann ich mit ihr nicht über Leni sprechen. Meine Kinder wissen von Leni, die Kinder meiner Schwester wahrscheinlich nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es noch nicht aufgelöst ist, dass sie es in anderer Form wiederholt. Zum Beispiel erzählt sie, sie habe Krankenschwester gelernt, dabei weiss ich doch, dass sie eine andere Ausbildung gemacht hat.
Wir alle machen Fehler (2011)
Die 34-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre jüngere Schwester
Meine Geschichte ist eine schöne Geschichte. Ich war früher schizophren und nahm Alkohol und Drogen. Vor ungefähr zehn Jahren bin ich an Weihnachten ausgerastet. Meine Schwester hat danach für zwei, drei Jahre den Kontakt abgebrochen. Für mich war das schwierig. In dieser Zeit hat sie ein Kind bekommen, einen Jungen. Irgendwie entstand wieder eine Verbindung und wir planten ein Treffen. Ich war sehr gespannt auf meinen Neffen, hatte aber auch Angst, dass er mich nicht mag. Aber er kam sofort auf mich zu und fasste mich um die Beine.
Seit fünf Jahren nehme ich keine Drogen mehr und es geht mir viel besser. Das habe ich Gott zu verdanken. Er hat geschaut, dass ich vor Krankheiten verschont blieb. Ich wohne in einem betreuten Wohnen und zügle demnächst in eine Einrichtung, in der ich selbständiger bin. Sogar mein Vater kam mich besuchen. Er war früher selbst Alkoholiker, und meine Probleme erinnerten ihn an sich selbst. Aber er sah, dass es mir gut ging und kam mich besuchen. Mit meiner Schwester bin ich heute sehr nahe. Früher hatte ich Angst, vor ihr einen Fehler zu machen. Aber ich kann gar keine Fehler machen, beziehungsweise, wir alle machen Fehler, und wenn etwas passiert, kann man mit dem anderen darüber sprechen. Auch meiner Schwester geht es heute gut. Früher konnte sie nicht arbeiten, heute ist sie FaGe in einer Klinik.
Wie Zwillingsschwestern (2018)
Die 55-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre jüngere Schwester
Ich bin die Älteste von Dreien, zwischen mir und meiner
kleinen Schwester gibt es noch einen Bruder. Mit meiner Schwester war es von
Anfang an schwierig, es gab Eifersucht und Konkurrenz. Meine Schwester möchte
mir nahe sein und setzt mich auf einen Thron, gleichzeitig will sie mich aber
auch herunterreissen. Sie tschalpete immer wieder im Leben voll hinter mir her,
zügelte an ähnliche Orte, machte ähnliche Dinge. Der Gipfel war, dass sie einen
Mann heiratete, der lange Zeit davor mein Liebhaber gewesen war. Sie wusste
jedoch nichts von unserer Liaison. Auch der Mann hatte es verdrängt, auch wenn
das fast nicht möglich war. Wir haben den gleichen Familiennamen und ähneln uns
aufs Haar, wie Zwillingsschwestern. Das ist die andere Seite: Wir haben den
gleichen Kleidungsstil und sind uns auch sonst sehr ähnlich. Wenn wir zusammen sind,
habe ich sie gerne. Das letzte schöne Erlebnis, an das ich mich erinnere, war
mein Geburtstag im April. Sie ist Töpferin und macht sehr schöne Keramiksachen.
Zu meinem Geburtstag hat sie mir eine wirklich schöne Schale geschenkt. Ich
habe mich sehr gefreut, und das hat sie wiederum gefreut. Das war uns beiden
wichtig. Es gibt Leute, denen sind ihre Geschwister eher fremd. Sie fragen sich
vielleicht „Hä, das ist meine Schwester?“. Dieses Gefühl habe
ich mit meiner Schwester überhaupt nicht.
Sammlung Ivo Knill
Moudon – Zürich – Liestal – Biel – Tägerwilen – Sulgen – Herisau – Stein (1992)
Der 42-jährige Mann erzählt von einer bewegten Kindheit
Wir sind vier Geschwister mit derselben Mutter und drei verschiedenen Vätern. Meine Mutter liess sich scheiden, als ich eineinhalb Jahre alt war. Nach sieben oder acht Jahren lernte sie den Mann kennen, der der Vater meiner jüngeren Schwester wurde. Wieder zwei oder drei Jahre später kam der Vater meiner beiden jüngsten Schwestern, der mein Stiefvater wurde. Auch diese Ehe ist geschieden. Uns Geschwister verbindet, dass wir immer wieder erklären müssen, wer wir sind und wie unsere Familie funktioniert. In der Schule war ich als Scheidungskind ein Exot. Die anderen Familien waren perfekt. So schien es jedenfalls. Das Verhältnis zu unseren Vätern war ok, aber auch nicht wirklich eng. Ich war als ältester Bruder mit acht Jahren Abstand zur nächsten Schwester ein Stückweit der Ersatzvater. Mit 16 bin ich ausgezogen. Wir haben viel gezügelt: Moudon – Zürich – Liestal – Biel – Tägerwilen – Sulgen – Herisau – Stein. Als ich auszog, war meine jüngste Schwester fünf Jahre alt. Da kannte sie mich kaum. Der ältesten meiner Schwestern half ich bei einem Vortrag in der Schule. Aus verschiedenen Videokassetten schnitt ich ihr einen Film für den Vortrag zusammen, da war sie schon stolz.
Jetzt wohnen alle Schwestern im selben Dorf. Wir haben zwei Kinder, die Schwestern sind Gotten, das verbindet uns. Wir stehen uns nicht sehr nahe. Wir lassen einander machen. Meine Mutter hat meinen Vater im Welschlandjahr kennengelernt, ich kam zur Welt, als sie neunzehn war. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die sich immerzu veränderte. Das Verhältnis zu meiner Mutter ist gut. Ich lebe heute ein ruhiges Leben. Aber ich kenne die halbe Schweiz. Vielleicht bin ich darum Disponent geworden?
Out of the blue (1966)
Die 52-jährige Erzählerin verfolgt ihre Herkunft nicht weiter als nötig
Ich bin ein Einzelkind. Meine Eltern haben immer dafür gesorgt, dass ich andere Kinder dabeihatte, zuhause, oder wenn wir in die Ferien gingen. Mein Vater war zeugungsunfähig. Als er den Befund erhielt, wollte er sich gleich scheiden lassen. Meine Mutter wollte gar nicht unbedingt ein Kind. Sie war Pianistin und arbeitete immer Vollzeit, ich hatte eine Nanny. Ich bin ein Adoptivkind. Als ich meine Mutter fragte, wie es war, als ich in ihrem Bauch wohnte, erklärte sie mir, dass sie mich in Zürich im Spital ausgesucht haben. Sie hätten mich genommen, weil ich das einzige Kind war, das lachte. Meine Eltern gaben mir das Gefühl, dass ich ihr Wunschkind war, ganz klar. Die Erforschung meiner Herkunft hat mich nie wahnsinnig interessiert. Ich habe die Unterlagen bekommen: Mein leiblicher Vater war ein Polizist aus Zürich, die Mutter war eine junge Frau aus Deutschland. Ich komme out of the blue. Wenn ich nach Erbkrankheiten gefragt werde, kann ich nichts sagen. Anderseits: Es ist ein Gefühl von grosser Freiheit. Hinter mir ist nichts. Vielleicht, ziemlich sicher, habe ich Halbgeschwister. Meine Kollegen in Zürich ziehen mich damit auf: Wenn sie jemanden sehen, der etwas schräg drauf ist, dann sagen sie schnell einmal: Das ist sicher ein Halbbruder von dir!
Vom Haustier zum Indianer (1969)
Der 55-jährige Erzähler erinnert sich an die Geburt der kleinen Schwester
Ich war ein Einzelkind bis ich sechs Jahre alt war. Da wurde mir gesagt: Du bekommst jetzt ein Geschwisterchen, freust du dich? Ich sagte nein, es sei doch alles gut, wir drei, Vater, Mutter und ich, das passe doch. Dann hiess es, dass man das nicht auswählen könne. Ich nahm das zur Kenntnis und ging, als es soweit war, wie abgesprochen zu den Grosseltern. Ich kam wieder zurück, als die kleine Schwester auf der Welt war. Zu meiner Freude bemerkte ich, dass sie gar nicht so gross war, sondern eher ein kleines Wesen. Ich hatte mir immer ein Haustier gewünscht. Irgendwie kam das, was da neu in die Familie gekommen war, dieser Vorstellung recht nahe. Jedenfalls erwachte mein Forschergeist und ich vertiefte mich in die Beobachtung dieses kleinen Wesens: Schöppelen – die Brust war damals weniger in Mode – der obligate Rülpser, Wickeln, Säubern und alles. Mit der Zeit war es dann vor allem der Wille und Eigensinn, der mich an meiner Schwester faszinierte. Wir hatten einen Hausarzt, der sich streng gegen den Schnuller aussprach. Meine Mutter log, dass die Schwester keinen habe und versteckte ihn, als der Arzt auf Hausbesuch kam. Die Schwester brüllte, der Arzt brüllte zurück und stellte ihren ausgeprägten Willen fest. Dass ihn die kleine Schwester mit ihren ersten Worten und resoluten Gesten auf die Schublade hinwies, in der die Mutter den Schnuller versteckt hatte, übersah er. Meine Mutter aber bekam einen zündroten Kopf.
Als sie sechs war, wollte sie mitspielen, wenn wir mit Plastikschwertern, gefärbten Federn und Pfeil und Bogen Indianer- und Ritterspiele machten. Mir war es peinlich, wenn sie sich anzudienen versuchte, aber sie hatte nicht selten Erfolg und schaffte die Aufnahme in unseren illustren Kreis.
Mit der Ablösung von zuhause war sie schneller als ich, so dass wir zur selben Zeit selbständig wurden. Durch einen Zufall landeten wir in derselben Wohnung, danach übernahmen wir zu zweit das Haus der Grosseltern, bis wir dann beide unsere eigenen Wege gingen.
Blutsschwestern (1978)
Die 51-jährige Erzählerin ist als Einzelkind aufgewachsen und fragt sich, ob ihr die Geschwister wirklich fehlen
Ich wollte immer einen grossen Bruder als Beschützer und eine, am liebsten zwei Schwestern zum Spielen. Aber ich blieb ein Einzelkind. Meine Eltern zogen in Siedlungen, wo es viele Kinder gab. Wir spielten, immer. Raus aus dem Haus und spielen, Räuber und Poli, Ritigampfe, Baumhäuser bauen. Rasch rasch rein zum Essen und dann wieder spielen. Es gab kaum Konflikte, man suchte sich die Kinder aus, mit denen es gut ging, aber ein grosser Bruder hätte trotzdem geholfen. Sie hätten es versucht, aber es sei nicht gegangen, sagten die Eltern. Heute habe ich selber zwei Kinder. Sie spielen gar nicht so oft miteinander, aber sie streiten häufig.
Einzelkind und verwöhnt, hiess es früher. Mit drei Freundinnen habe ich Blutsschwesternschaft geschlossen. Es war eine ziemliche Knübelei mit dem Sackmesser, bis es blutete, aber dann: Finger an Finger, Blut zu Blut und wir hatten einen besonderen Bund.
Im Alter werde ich die Geschwister wohl vermissen, wenn es um die Sorge für meine Eltern geht. Das liegt dann allein bei mir. Wobei, wenn ich höre, wie andere sich streiten wegen dem Erben und den Pflichten, denke ich mir, dass es auch seine Vorteile hat.
Mit einer meiner Blutsschwestern habe ich noch Kontakt. Ich werde sie fragen, ob sie sich noch erinnert.
Haut und Haar
Die 50-jährige Erzählerin verlor fast ihre beste Freundin an die jüngere Schwester
An der Frisur merkt man, dass wir Geschwister sind. Als
Älteste war ich regelrecht verfolgt. Meine kleinen Schwestern hatten immer den
gleichen Schnitt wie ich. Sie wollten machen, was ich machte, sie wollten
werden, was ich werden wollte. Meine jüngere Schwester lernte den gleichen
Beruf wie ich, sie reiste nach Südamerika wie ich und sogar meine beste
Freundin wurde auch ihre beste Freundin. Mich störte das nicht, bis zu dem
Moment, als meine beste Freundin nicht mich, sondern meine kleine Schwester zur
Brautführerin bestimmte. Sie zog sie vor. Ich heulte. Ich war entsetzt und
verlor den Boden. Das Gute war: Ich besann mich darauf, meine Freundschaften
wirklich zu pflegen. Und ich zog Grenzen zwischen mir und meiner Schwester. Ich
liess es nicht zu, dass sie am selben Ort Ferien machte wie ich mit meiner
Familie. An der Hochzeit hatte ich dann doch einen guten Tag: Ich hatte viel
Zeit für die Tochter meiner Schwester und verbrachte einen wunderbaren Tag mit
ihr. Im Nachhinein dachte ich, dass ich wohl mit meinen vier Kindern
überfordert mit der ganzen Organisation gewesen wäre. Heute, nach vielen
anderen Geschichten, haben wir eine liebevolle Beziehung. Wir sind beide
unseren Weg gegangen. Sie ist nicht mehr hinter mir. Ich schätze, was sie
macht, sie fragt mich um Rat. Wir haben uns als Gegenüber gefunden.
Sammlung Thomas Studer
«Du bist kein richtiger Mann!», Teufental, 1953-68
Der 65jährige Erzähler erinnert sich an seinen Vater, seine Mutter und seine drei Geschwister
Damals, Ende der 50er, anfangs der 60er Jahre, war es normal, abgeschlagen zu werden. Konflikte wurden mit Schlägen gelöst, ein erprobtes und selbstverständliches Züchtigungsmittel.
Ich wuchs in einem Einfamilienhaus an einem Steilhang auf, mit Schafen, Chüngel, Katzen, Hunden, Äpfel- und Quittenbäumen. Wir zwei Brüder schliefen in einem Zimmer, die Schwestern im anderen. Die Mutter war immer am Arbeiten, draussen. Der Vater betrunken. Er hatte eine Schreinerlehre gemacht und war dann aber mit dem Velo angefahren worden. Einseitig gelähmt. Das war vor unserer Zeit. Wir mussten also selber auf uns aufpassen. Die Älteste hütete uns. Mein älterer Bruder konnte studieren, er war der Vorzeigemann und Liebling des Vaters. Ich selber war schmächtig, schüchtern und sehr ruhig. Das nervte meinen Vater gewaltig.
«Du bist kein richtiger Mann!»
Er kritisierte mich wegen meinen langen Haaren und schlug mich regelmässig ab. Den Bruder aber nicht, obwohl der auch lange Haare hatte. Auch die Schwestern rührte er selten an. Nur mich und meine Mutter schlug er windelweich.
Wir Geschwister hatten eigentlich einen guten Zusammenhalt, aber eben, immer Angst vor dem Vater… Ich selber übernahm später das Muster von meinem Vater bis zur Lehrzeit, ich konnte einfach nicht anders. Doch dann hörte ich von den Hippies, von Peace und «No War» – und stoppte damit. Ich wollte kein Schlägertyp werden, sondern friedlich bleiben! Im Laufe meines Lebens machte ich verschiedene Therapien, übrigens auch meine Geschwister. Und ich lernte, meinen Vater zu verstehen – und habe ihm auch vergeben. Heute denke ich, dass ich froh bin, körperlich geschlagen worden zu sein. Ich erlebe in meinem beruflichen Alltag immer wieder, wie viel schlimmer und verheerender psychische, seelische Gewalt ist. Dank meinem Vater wurde ich zu einem Kämpfer und lernte zugleich, auf Menschen Rücksicht zu nehmen und sich für sie wo nötig einzusetzen!
P.S.: Meine jüngste Schwester schaffte es nicht. Sie heiratete einen Alki. Als dieser dann Jahre später nach unzähligen Dramen starb, hatte sie nie mehr eine Beziehung. Sie kam mit dem Leben nicht zurecht und starb früh.
Idiot, Burgdorf, 1981
Die 55jährige Erzählerin erinnert sich an ihren vier Jahre älteren Bruder
Das neue Blockquartier mit rund 40 Kindern war für meinen Bruder, 3 ½ Jahre älter als ich, und meine Schwester, 2 Jahre jünger, das Paradies! Wir wuchsen in einer Horde von Kindern auf, spielten Räuber und Poli, jagten durch das Quartier und bauten mit Stühlen Raketen, um auf den Mond zu fliegen. Der Höhepunkt war Fasnacht: Wir verkleideten uns alle, zusammen mit den Erwachsenen, und es gab ein grosses, wunderschönes Fest draussen im Hof. Also eine unvergessliche Kindheit! Alles wäre gut gewesen – ohne meinen Bruder…
Je älter er wurde, klinkte er sich mehr und mehr aus der Familie aus. Er wurde ein Einzelgänger, genügte sich selber, eine echte Topfpflanze. Er zog nach Zürich und von dort aus war Burgdorf für ihn reine Provinz. Zürcher Provinz.
Was mich bei ihm immer ganz besonders nervte: Er hat mich nie ernst genommen und behandelte mich immer wie eine kleine Göre – und macht das heute noch, mich 55jährige, wie eine 18jährige… Lächerlich! Und nervend! Wenn wir uns heute sehen – was sehr sehr selten ist – dann fällt er in die uralten gleichen Sprüche von damals zurück. In seiner Entwicklung schlichtweg stehengeblieben. Eigentlich lachhaft, wenn es nicht tragisch wäre… Die jüngere Schwester hat ihm schon immer die Stange gehalten, da war er ein bisschen zurückhaltend. Bei mir nicht!
Was ich ihm am liebsten sagen würde? «Du bist ein arroganter Idiot!» Von Auge zu Auge! Habe es ihm aber bis jetzt noch nie gesagt… eigentlich möchte ich darüber stehen… nur… das habe ich bis jetzt noch nicht geschafft…
Barbie, Schalunen, 2000-2007
Die 20jährige Erzählerin berichtet über ihre acht Jahre ältere Schwester
Ich bin die Jüngste von drei leiblichen Geschwistern und habe später noch zwei Nichtleibliche bekommen. Meine acht Jahre ältere Schwester liebte ich, weil sie cool, hübsch und spontan war. – Und sie konnte s’Füüfi grad si la! Also ein echtes Vorbild! Obwohl sie michregelmässig quälte, zusammen mit der 13 Jahre älteren Schwester!
Wenn ich nämlich als Vier-, Fünfjährige in ihr Zimmer wollte (und das wollte ich immer, da ich nichts lieber tat, als sie nerven!), dann gab sie mir links und rechts zwei Stuber – und schon war ich wieder draussen. Oder beide Schwestern kitzelten mich immer wieder aus, bis ich i d’Hose bislet habe.
Zwei, drei Jahre später aber änderte sich das: Auf meinenWunsch hin spielte meine Schwester mit mir Barbie. Sie akzeptierte,dass ich immer s’Barbie mit den kurzen blonden Haaren sein wollte und sie dielanghaarige Schwarze spielen musste, nämlich eine richtige Zicke!
Das gefiel mir total, wie sie die Zicke spielte, herumquengelte und eine richtig eklige Giftnudel war. So lernte ich schnell, auch eine Zicke zu werden! Was mir übrigens das ganze Leben hindurch half…
Mit siebzehn zog sie aus – ich war damals erst neun. Für
mich der Schock des Lebens. Ich war nun plötzlich allein mit meinen Eltern,
hatte zwar zwei Zimmer zum Spielen – aber ich konnte sie leider nicht mehr
quälen oder mit ihr barbele… denn nun hatte sie ja ihren Freund dazu. Ich blieb
auf der Strecke.
Schauermärchen, Koppigen, 1977
Die 47jährige Erzählerin erinnert sich an ihre vier Jahre ältere Schwester
Als Jüngste von drei Schwestern war ich Spiel- und Experimentierfeld für die morbiden Ideen meiner mittleren Schwester. Wie liebte sie es, mich mit ihrem schwarzen Humor zu Tode zu erschrecken! So streifte sie sich schwarze Gummihandschuhe über, während ich im Keller unten duschte. Dann schlich sie leise bis zum Duschvorhang und streckte langsam ihre Gummihand hinein, die wie ein glitschiger Tintenfisch aus dem Nichts erschien. Erstarrt vor Schrecken beobachtete ich die Mörderhand, die mit den Gummifingern zuckte und sich am Duschvorhang festhielt. Ich hielt es nicht mehr aus, kreischte laut unter der Dusche und schrie nach Hilfe.
Als nächstes, ein paar Tage später, verzichtete sie während dem Duschen auf die Gummihandschuhe und stellte mir stattdessen zwei schwere, nasse Männerstiefel hinter den Duschvorhang… Ich sah die Schuhe und glaubte, ein grosser Mann mit schwarzen Stiefeln stehe in der Dusche… Huch, was für ein Schock!
Ihre makaberste Idee setzte sie aber im nahen Wald um. Es war an einem warmen Sommertag. Wie immer hatten wir uns gegen Abend bei der Bank unter der Tanne verabredet, meine Schwester, ihre gleichaltrige Freundin und ich, das Nesthäkchen. Freudig hüpfte ich über die Wiese zum Waldrand unter die Bäume und suchte mit meinen Augen die nahen Bäume ab. Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt.
«He, wo seid ihr?»
Stille. Ich schluckte leer und dachte, dass die beiden sicher noch bei der Freundin zu Hause Musik hörten oder heimlich hinter dem Schopf eine Zigi rauchten. Gerade als ich über die Wiese zum nahen Haus rennen wollte, sah ich es – und das Blut gefror mir auf der Stelle in den Adern!
Neben der Tanne am Boden lagen die langen dunklen Haare meiner Schwester, abgeschnitten und hingeworfen. Mitten drin steckte ein Küchenmesser… Panik ergriff mich… Nichts wie abhauen, dachte ich – als plötzlich helles Kichern hinter den Bäumen hervordrang – und meine Schwester und ihre Freundin lachend auf mich zukamen, begeistert über ihren wunderbar grusligen Einfall!
Grossfamilie: eine Fortsetzungsgeschichte, Benken, bis 1980
Die 50jährige Erzählerin erinnert sich an ihre ein und zwei Jahre älteren Schwestern
Wir waren acht Geschwister und wuchsen sehr einfach und bescheiden in einem Bauernhaus mit drei Kühen, Hühnern, Kartoffeln und Kirschen auf.
In den ersten Jahren hatten wir kein Badezimmer. Meine Mutter karrte uns mit einem Leiterwagen zum Milchhuus mit dem Milchräumli, wo die Milchbehälter gewaschen wurden. Und von wo sie zu Fuss die Milchbehälter ins Dorf schleppte. Die Kindheit war für mich voller Erlebnisse, bunt, wild und lärmig. Wir hatten es unter den Geschwistern gut miteinander, bis heute aber nicht mit allen gleich gut. Meine Lieblingsschwester war Edith, ein Jahr älter als ich. Mit ihr wuchs ich wie siamesische Zwillinge auf. Dann kam Anita, zwei Jahre älter, schon viel weniger siamesisch…. Sie war mir zu fleissig und pinggelig.
Als wir in der 2. Sek einen Vortrag machen mussten, steckten Edith und ich die Köpfe zusammen und beschlossen, bei Anita, der Pinggeligen, zu schauen, was sie im letzten Jahr dazu gemacht hatte. Wir schlichen in ihr Zimmer und fanden den Schlüssel zu ihrem hochgeheimen Kästchen, in dem sie Fotos und eben den Vortrag «Geburt eines Kalbes» versteckte. Niemand merkte, dass wir ihn geklaut hatten, der Lehrer bemängelte zwar, er sei ein bisschen kurz, doch als ich ihm dann erwiderte, dass gewisse Themen einfach einmal erschöpft seien, schwieg er.
In den 70er Jahren ging es uns besser, wir hatten statt drei nun plötzlich 17 Kühe und bekamen sogar ein Auto, in dem vier Kinder auf dem Hintersitz und die anderen vier im Kofferraum verstaut wurden. Ich mit Edith natürlich hinten. Anita vorne. Doch immer noch mussten wir die Klamotten der Älteren tragen, die breiten Hosen also ein paar Jahre später, nachdem die anderen bereits Röhrlihosen hatten… Da schämten Edith und ich uns gewaltig!
Im Rückblick erkannten wir Geschwister, dass dieses Grossfamilienleben uns ein Grundvertrauen schenkte, ein Sippengefühl, das wir alle über Jahrzehnte durchs Leben trugen. Bis heute. Alle acht Geschwister haben nämlich zwischen drei und fünf Kinder, insgesamt 32 Grosskinder, die alle regen Kontakt miteinander haben: eine Fortsetzungsgeschichte unserer Grossfamilie! Beinahe wie ein Märchen!
Körperinspektion, Burgdorf, 2011
Der 22jährige Erzähler erzählt über sich und seinen Zwillingsbruder
Mein Zwillingsbruder und ich standen 100 Meter von zu Hause entfernt hinter einer Mauer in Deckung. Es war kurz vor elf Uhr nachts. Nach dem Ausgang mit unseren Kollegen an der Ämme.
«Häsch no Chätschis?»
«Ja, und du s’Ax-Deo?»
Ich nickte. Schnell packten wir unsere Verhüllungsinstrumente aus und schoben ein paar Chätschgummis in den Mund. Bevor mein Bruder mit unserem Ritual begann, schaute er kurz um sich, obuns jemand beobach-te. Dann sprayte er mich von oben bis unten ein. Ich schloss die Augen und kniff das Gesicht zusammen. Zuerst die Haare, den Kopf, dann die Jacke, Hosen, Socken, bis hinunter zu den Schuhen. Nachts um elf, vor unserem Hause, eingehüllt in eine Deowolke.
«Fertig. Jetzt du!»
Wir kicherten beide. «Give me five!»
Wieder einmal geschafft! Die Eltern würden nichts merken. Der Rauchge-ruch war wie von Geisterhand verschwunden. Und unsere Eltern als Nicht-Raucher mega naiv.
Unser Vater wartete immer, bis wir zur vereinbarten Zeit
heimkamen. Er stand in der Stube, meistens in seinem Schlabberpijama und
schaute auf die Uhr. Wir wussten, dass wir pünktlich sein mussten, um ihn nicht
misstrauisch zu machen. Meistens klappte es. Doch manchmal forderte er uns auf,
ihn anzuhauchen. Wie auf dem Polizeiposten. Und dann schnüffelte er um uns
herum. Er hatte einen Verdacht, fragte
uns dann auch direkt, ob wir geraucht hätten. Völlig überrascht ab der
komischen Frage verneinten wir empört und beteuerten unsere Unschuld. Wir
wussten, dass wir ihn dabei unbedingt direkt anschauen mussten. In die Augen!
Dann glaubte er uns, manchmal immer noch ein bisschen misstrauisch. Rasch
gingen wir brav ins Bett – und lachten uns beim Zähneputzen verschworen ins
Fäustchen. Wieder hatten wir es geschafft! Eine Spur Unsicherheit aber blieb
bei uns beiden zurück. War das richtig, was wir taten? Bis wir ein paar Wochen
später dann doch aufflogen: als die Eltern nämlich untereinander übers Rauchen
sprachen, misstrauisch wurden, und uns eines Nachts alle damit konfrontierten.
Ende mit dem Lügengebäude. Ende mit den Körperinspektionen.
Sammlung Verena Singeisen
Die Unzertrennlichen
Eine 68-jährige Frau erzählt
Ich habe nur einen Bruder.
Als Kind hatte ich ständig das Gefühl, ich müsse ihn beschützen.
Nein, er war nicht viel jünger als ich – nur zwei Jahre jünger. Er war einfach sehr klein und schmächtig. Immer wenn er von anderen Kindern angegriffen wurde, legte ich mich für ihn ins Zeug; mit Worten und mit Fäusten.
Noch heute ist er klein.
Später, als Jugendliche und noch lang darüber hinaus, hatten wir wenig Kontakt miteinander. Meine Eltern waren grosse Anhänger der antiautoritären Erziehung. Die Schule von Summerhill war für sie ein zentrales Thema.
Mein Bruder hingegen solidarisierte sich schon früh mit marxistischen Gruppierungen und separierte sich dadurch immer mehr von unserer Familie.
Ja, es ist noch nicht lange her – ja – eigentlich im Zusammenhang mit dem Tod unserer Eltern, da haben wir uns wieder getroffen. Ich muss sagen, dass wir uns durch das gemeinsame Bangen erstmals gefunden haben und seither sind wir unzertrennlich.
Wir tauschen Bücher und Ideen aus und entdecken immer wieder viele Gemeinsamkeiten.
Wir telefonieren uns oft – es sind immer sehr vertrauliche Gespräche. Ja, wir sprechen über ganz persönliche Dinge.
Die Gespräche können eine ganze Stunde lang oder noch länger dauern.
Wie hoch dürfen Sträucher wachsen?
Eine 75-jährige Frau erzählt
Wir sind fünf Geschwister. Ich bin die Älteste.
Ich bin mir immer sehr ausgenutzt vorgekommen.
Die Schwester, die bald nach mir zur Welt gekommen ist, hatte immer volle Freiheit.
Sie musste nie fragen, wenn sie hinaus gehen wollte, um mit den anderen Kindern vom Dorf zu spielen.
Ich schon! Ich musste immer da sein, um die kleineren drei Geschwister zu hüten oder der Mutter im Haushalt zu helfen.
Nein, jetzt habe ich nicht mehr viel Kontakt zu meinen Geschwistern.
Die Eltern sind gestorben und so gibt es keinen speziellen Grund mehr uns zu sehen oder etwas miteinander zu besprechen.
Oder doch – natürlich – noch mit meiner Schwester, mit ihr teile ich heute das Elternhaus. Die eine Hälfte vom Haus gehört mir und die andere ihr. Das Haus ist heute nicht mehr bewohnt. Von Zeit zu Zeit vermieten wir es als Ferienhaus.
Ja, im Grossen und Ganzen habe ich es heute recht gut mit meiner Schwester. Aber dennoch – hin und wieder streiten wir uns wegen unserem gemeinsamen Garten.
Sie will immer alle Sträucher, sobald sie ein wenig in die Höhe gewachsen sind, niederschneiden. Ich würde sie gerne etwas höher wachsen lassen.
Wieviel Abenteuer und Forschergeist darf es sein?
Eine 72-jährige Frau erzählt
Ich habe eine Schwester, die ist drei Jahre jünger als ich. Sie war das Lieblingskind meiner Mutter, ich dagegen war das Lieblingskind meines Vaters.
Als sie noch sehr klein war, war sie für mich wie eine lebendige Puppe. Ich habe sie immer herumgetragen oder in meinem Puppenwagen herumgestossen.
Einmal, am Waldrand neben unserem Haus, wo das Strässchen etwas steiler wird, konnte ich den Puppenwagen nicht mehr halten. Er war einfach zu schwer, und da ist er mir entglitten und mit ihr drin voll in den Gartenhag gerasselt und gekippt.
Ein anderes Mal, ich war etwa fünfjährig, habe ich sie auf einen Schemel gesetzt.
Ich nahm einen dünnen Metallstab und steckte ihr diesen ins Ohr. Denn mich nahm Wunder – ja, ich wollte es einfach wissen – , ob es in den Köpfen drin zwischen den beiden Ohrenlöchern eine Verbindung gibt. Sie schrie fürchterlich – wie am Spiess.
Meine Mutter kam angerannt. Seither hat meine Schwester immer noch ein kleines Löchlein im linken Trommelfell.
Später fand ich meine Schwester nicht mehr interessant. Sie war langweilig, war immer eifersüchtig auf mich. Sie war sehr scheu und ängstlich und spielte fast nur im Hause drin mit ihren Puppen.
Viel interessanter fand ich es dagegen, draussen mit meinen fünf Cousins zu spielen, die im Nachbarhaus wohnten.
Der Jüngste hatte mein Alter, die anderen waren älter. Sie waren für mich wie Brüder.
Wir spielten wilde und mutige Spiele. Die Fünf benutzen mich oft als Räuberbeute. Einmal spielten wir Indianerlis. Sie fesselten mich und banden mich mitten im Wald an einen Baum. Sie spielten intensiv weiter, entfernten sich dabei immer weiter weg, bis ich sie nicht mehr hörte. Und dann vergassen sie mich einfach.
Am Abend, als ich nicht nach Hause kam, fragten meine Eltern nach mir. Den Cousins kam erst dann wieder in den Sinn, dass sie mich irgendwo an einen Baum gebunden hatten. Sie wussten aber nicht mehr wo.
Mein Vater ging auf die Suche und fand mich in einem recht verzweifelten Zustand. Darauf haben mir meine Eltern verboten, mit den Cousins zu spielen.
Die Briefmarkensammlung
Ein 83-jähriger Mann erzählt
Ich hatte einen drei Jahre jüngeren Bruder. Er hat eine Lehre als Werkzeugmacher gemacht. Er ist früh gestorben. Ich erinnere mich kaum an etwas, das wir in unserer Kindheit oder Jugend miteinander gemacht hätten. Auch an meine Schwester, die neun Jahre jünger ist als ich, kommt mir nichts Gemeinsames aus unserer Kinder- und Jugendzeit in den Sinn.
Ich hatte in der Schule immer grosse Probleme. Darum haben mich meine Eltern schon sehr früh in eine Privatschule gesteckt, in ein Internat.
Ja, da habe ich als Jugendlicher hauptsächlich gelebt.
Als Zwanzigjähriger bin ich dann definitiv von zu Hause weggezogen und bin darauf selten nach Hause zurückgekehrt.
E-Mails und Smartphones kannte man damals natürlich noch nicht. Aber ich habe jede Woche von meinen Eltern und meinen Geschwistern einen Brief bekommen und selber geschrieben.
Weil alle wussten, dass ich Briefmarken sammle – das mache ich auch heute noch – haben mir alle immer besonders schöne Marken auf die Couverts geklebt.
Jetzt, da auch meine Eltern nicht mehr leben, schreibe ich nur noch meiner Schwester.
Jede Woche einen Brief.
Ich schreibe ihn heute mit dem Computer und drucke ihn zweimal aus. Eine Kopie versorge ich in einen Ordner. Das ist für mich wie ein Tagebuch. Ich lese oft darin und kann mich so immer wieder daran erinnern, was ich durch das ganze Jahr hinweg treibe und welche Reisen ich gemacht habe.
Ich selber und meine Schwester, nein, wir haben keine Kinder. Von meinem Bruder haben wir zwei Neffen. Ich habe wenig Kontakt mit ihnen. Ich sehe sie sehr sehr selten.
Doch, an Weihnachten und zum Geburtstag schreiben sie mir oder kommen vorbei.
Die beiden werden einmal meine Erben sein. – Leider sammeln sie keine Briefmarken.
Em Brueder sini Chatz
Ein 65-jähriger Mann erzählt
Eigentlich kann ich keine Geschwistergeschichte erzählen. Doch, doch ich habe schon einen Bruder gehabt. Er ist gestorben. Er war aber fünf Jahre jünger als ich. Das war schon ein grosser Altersunterschied.
Wir lebten in einem Haus in der Buchmatt. Damals war das noch ganz auf dem Land, daneben waren die Wässermatten.
Wir beide hatten total andere Interessen. Er war immer in Bewegung, wild und handwerklich geschickt. Ich war mehr der Bücherleser.
Er hat sich in den umliegenden Fabrikgebäuden ausgekannt wie kaum einer und wusste, wo es in den Fabrikgebäuden heimliche Eingänge gab.
Er war etwa zwölfjährig, als er mir und ein paar Freunden nach einem kleinen Fest gezeigt hat, wie man in die Futtermühle reinkam. Es war Karfreitag, also kein Betrieb im Gebäude. Wir genossen die Aussicht auf dem hohen Turm. Als wir mit dem Warenlift wieder nach unten fuhren, blieb er plötzlich stecken. Das war ein echter Schreck, es gab damals natürlich noch keine Handys. Zum Glück funktionierte der Lift eine halbe Stunde später wieder. Auch auf den Spredaturm hat er uns einmal illegal geführt.
Einmal brannte es im grossen Reifenlager. Der Feueralarm ging los. Die Feuerwehr kam, aber niemand wusste, wo man da reinkam. Mein zwölfjähriger Bruder hat den Feuerwehrmännern einen geheimen Einstieg gezeigt.
Vor zwei Jahren ist mein Bruder an Krebs gestorben. Ja, er war ein begabter Tüftler, hat bei Pauli die Lehre als Elektriker gemacht. Leider hatte er Alkoholprobleme. Er besuchte oft Diskotheken, aber nicht zum Tanzen. Er hat dort jeweils ganz raffinierte Beleuchtungen installiert.
Wir haben uns in den letzten Jahren nicht viel umeinander gekümmert. Obwohl er eigentlich sehr nahe von mir weg, hier oben in der Altstadt, gewohnt hat.
Jetzt lebt noch seine Katze bei mir, eine Hauskatze, die noch nie nach draussen gegangen ist. Ich habe sie zu mir genommen. Sie ist zwanzigjährig, sie hört nichts mehr, hockt herum, spielt nicht und im Essen ist sie sehr wählerisch. – Aber sie isch e liebi!
Also gut!
Eine 75-jährige Frau erzählt
Ich hatte drei Geschwister, ich war die Jüngste. Bis ich etwa zehn Jahre alt war, hatte ich für meine älteren Geschwister keine Bedeutung. Ich störte sie immer, geh weg, sagte vor allem mein neun Jahre älterer Bruder.
Dann wurde er krank, gehbehindert und alles wurde anders.
Mein langweiliges Leben bekam eine grosse Wende. Mein grosser Bruder brauchte mich plötzlich, ging an Krücken. Ich holte ihm Bücher in der Bibliothek, begleitete ihn an interessante Vorträge, in Konzerte, er diskutiert mit mir über vieles. Ich musste aber auch seine Wutausbrüche aushalten.
Ich wurde plötzlich wie eine erwachsene Person behandelt. Der grosse Bruder hat nach meinem zehnten Lebensjahr mein Leben geprägt, viel mehr als mein Vater.
Denn mein Vater, der Berufsschullehrer war, musste neben seiner 100 prozentigen Anstellung auch noch am Abend Kurse geben. Ich sah ihn praktisch nie. Denn mit dem kranken Bruder stiegen die Lebenskosten drastisch. Und auch meine Mutter hatte viel mehr Arbeit zu leisten.
Dank meinem Bruder wurden auch unsere Ferien interessanter. Zwei Mal im Jahr verbrachten wir, vom Moment seiner Krankheit an, unsere Ferien am Meer, weil es ihm eben gut tat. Wir wären doch sonst nie ans Meer gereist.
Er lebt noch heute, mein Bruder. Unsere Abhängigkeit war aber zu gross, es war ihm alles zu eng, so dass er sich, sobald er Möglichkeiten sah, von mir zurückzog.
Er hat zwar immer noch grosse Achtung vor mir, aber keine Nähe. Die Nähe zu mir war früher zu stark erzwungen.
Er telefoniert mir selten, aber schon nach 10 Minuten sagt er: Also gut!
D’Fürwehrmanne
Der 8-jährige Janik erzählt
Ich heisse Janik.
Das ist mein Bruder Elin, er ist fünfjährig.
Und der Kleine, den meine Mutter im Arm trägt, ist Finn, er ist zweijährig.
Nein, ich spiele nicht mit meinen kleinen Brüdern. Die spielen miteinander. Ich lese lieber.
Ja, Detektivbücher, zum Beispiel «Die drei Fragezeichen».
(Er zeigt mir ein Buch, das er in der Hand hält:) Das habe ich eben bekommen. Sie können es dort in der Buchhandlung kaufen.
Ja, dieses Buch ist sicher interessant, lesen sie nur hier die Zusammenfassung auf der Rückseite.
Das Buch ist von Daniele Meocci und der Titel heisst “Maunzer” (übrigens ein Burgdorfer).
Doch, ich habe schon einmal mit den kleinen Brüdern gespielt, aber da gab es nur Unglück.
Wir haben Feuerwehr gespielt. Elin war der Feuerwehrhauptmann. Ich musste so rasch wie möglich im Garten mit dem Velo aufs Feuer losfahren, um es zu löschen. Da fiel ich aufs Maul.
Es hat schrecklich geblutet. Wirklich – echtes Blut ist aus meinem Maul geflossen!
Blödes Arschloch
Ein 73-jähriger Mann erzählt
Ich bin mit drei Halbgeschwistern im väterlichen Elternhaus aufgewachsen in einem schönen Vorort von Bern an einem Waldrand. Nach dem Tod der Frau meines Vaters hat der Vater das Haus verlassen, er zog zu seiner Freundin. Das Haus stand darauf etwa drei Jahre leer. Mein Vater ging nur noch hin, um das Büsi zu füttern. Der grosse Garten verwilderte.
Da habe ich mit meinen Brüdern gesprochen und ihnen gesagt, dass ich es schade fände, dass das Haus so unbelebt sei und sie gefragt, ob nicht jemand von ihnen interessiert wäre, darin zu leben und es zu übernehmen.
Nein, meinten sie, die Erinnerungen ans Haus seien nicht nur erfreulich, sie hätten andere Pläne. Sie fanden hingegen meine Idee gut, dem Vater vorzuschlagen, dass ich es erwerben möchte, sie waren damit ganz einverstanden.
Der Preis wurde abgesprochen, wiederum waren alle einverstanden. Gut, es war ein Freundschaftspreis. Aber fair, es gab ja viele Renovationsarbeiten zu machen, und alle waren zufrieden.
Ich habe das Haus 1981 in Stand gestellt, vieles war veraltet und heruntergekommen und den Garten habe ich gerodet.
Ich war sehr glücklich und wollte die gute Wende mit dem Vater und meinen Geschwistern feiern. Ich lud sie alle in ein renommiertes Restaurant in Bern zum Essen ein. Wir sassen schon gemütlich beieinander, nur einer der Brüder fehlte noch. Bei guter Stimmung setzten wir uns zum Apero und warteten auf ihn. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen, mein Bruder stand unter der Türe und schrie durch die ganze Gaststube meinem Vater schreckliche Schlötterli zu. “Du blödes Arschloch!”, schrie er. Die Gäste drehten erschreckt die Köpfe. Mein Vater erbleichte. Wie weiter? dachten wir alle. Mein Bruder verschwand darauf wieder. Etwas später erschien er nochmals, schrie wieder schreckliches Zeug durch die ganze Gaststube. Später schickte er mir eine Rechnung für das vorgezogene Erbe.
Damals Theologiestudent, ist er heute Pfarrer einer behäbigen Gemeinde im Kanton Bern. Er versuchte später mit mir wieder Kontakt aufzunehmen. Für mich war dies damals aber eine so schreckliche Sache, dass ich das Verhältnis zwischen uns lieber ruhen lasse.
Der ungläubige Blick
Eine 28-jährige Frau erzählt
Ich bin in Kenia, in Nairobi, ganz nahe vom Nationalpark zusammen mit meiner Schwester aufgewachsen. Mein Vater war dort als Lehrer einer schweizerischen Bibelschule tätig.
Der Glaube hat mich und meine Schwester schon immer verbunden.
Jeden Karfreitag hat uns unser Vater erzählt, dass Jesus für uns Menschen am Kreuz gestorben ist und er uns damit unsere schlechten Taten vergibt. Unser Vater hat uns erzählt, dass wenn wir uns in unserem Leben für Jesus entscheiden, er dafür sorgen werde, dass wir sicher in den Himmel kommen.
Als ich siebzehnjährig war, das war 2008, liessen meine Schwester und ich uns gemeinsam taufen. Wir beteten zusammen: Danke Jesus, dass du für unsere Sünden gestorben bist, wir wollen mit dir leben. Das war ein schönes Erlebnis.
Doch, wir haben als Kinder im Busch auch miteinander gespielt. Nein, wir haben selten gestritten. Eifersüchtig? Kaum, vielleicht war ich es manchmal, weil meine Schwester eine bessere Schulbildung hat.
Und Sie? In Ihrem Alter ist das doch noch aktueller… Freuen Sie sich auch, wie wir beiden Schwestern, auf den Himmel, auf das ewige Leben nach dem Tod, ganz ohne Hass und Trauer? – Nicht unbedingt? – Das kann doch nicht sein! – Ist das möglich, Sie befürchten wirklich, dass das ewige Leben ohne Streit und Traurigkeit für Sie etwas langweilig werden könnte?